Geistig fit mit Klavier, Alphorn oder lieber Geige?
28. Januar 2018
Erfahren Sie, wie Sie sich einen lang gehegten (Musik) Wunsch erfüllen und gleichzeitig ihren Geist fordern.
Wer regelmässig musiziert, kann die Gehirnleistung im Alter erhalten – und sogar steigern. Der Trend zum Instrument fordert neue Wege im Musikunterricht, denn ältere Menschen setzen stärker auf selbstbestimmtes Lernen.
Wer über Jahre einen Garten pflegt, weiss, wie viel dieser zu tun gibt. Auch körperlich fällt bisweilen strenge Arbeit an. Das wird Frau R. schmerzlich bewusst, und sie muss mit 89 Jahren ihren geliebten Garten aufgeben. Stattdessen rückt nun aber ein verschütteter Wunsch ins Licht, den sie als drittes von 13 Kindern nie realisieren konnte: Klavier spielen lernen.
Sie wuchs auf einem Bauernhof auf und musste überall anpacken, wo es nötig war: im Stall, auf dem Feld, in der Küche. Nach den acht obligatorischen Schuljahren verdingte sie sich als Hausmädchen und half in Hotelküchen aus; Geld, eine Lehre zu machen, gab es nicht.
«Ich war schon immer fasziniert von diesem Instrument und dem Klang.» (Frau G., 63, Klarinette)
Heute nun lernt Frau R. Klavier spielen, einmal in der Woche kommt ihre Lehrperson (die Tochter) vorbei und entdeckt in ihrer Mutter eine motivierte und anspruchsvolle Lernende. «Es macht mir Freude, aber es ist nicht jeden Tag gleich», sagt Frau R., «manchmal mache ich mich zwei- oder dreimal täglich dahinter, weil ich wissen will, ob es jetzt nicht doch geht.» Sie «will alles und richtig lernen, also auch Notenlesen», so die Tochter, denn ihre Mutter kann auf einen grossen Liedschatz zurückgreifen und ist bald in der Lage, eine bekannte Melodie nach Gehör auf dem Klavier zu spielen.
Ein Stolperstein ist der Fingersatz, insbesondere der linken Hand, bedingt durch den Aufbau der Klaviatur und ihre linear auf- bzw. absteigende Ordnung. Die Zuordnung von Zahlen für jeden Finger der rechten Hand (von 1, Daumen, bis 5, kleiner Finger) leuchtet ein; dass jedoch die Fingersätze der linken Hand gespiegelt sind – der linke Daumen die 1 ist und nicht der kleine Finger – das erscheint Frau R. «einfach nur unlogisch».
«Man muss einen gewissen Stand erreichen. Sonst ist es nicht befriedigend. Ich hatte auch das Ziel, gewisse Stücke einmal spielen zu können.» (Herr S., 72, Geige)
Jetzt sind angemessene Methoden gefragt, sehr oft eigene Kreationen der Lehrperson, denn die Anfängerliteratur richtet sich in der Regel an Kinder. Eine erwachsene Person fühlt sich kaum ernst genommen, wenn ihr Heft «Meine allerersten Tastenträume» heisst und «Piano-Kids» zum Üben motiviert werden sollen. Das gilt auch für den Tonfall und die Wortwahl. Lernende erwarten einen Austausch auf Augenhöhe und fordern ihre Lehrpersonen heraus.
«Das ewige Dreinreden der Souffleuse beim Theaterspielen habe ich nicht vertragen», erinnert sich Frau R., «liess man mir die Zeit nicht, den auswendig gelernten Text im eigenen Tempo wiederzugeben, war ich draussen. Heute nun, am Klavier, merke ich, dass man es mir zwei-, dreimal sagen muss. Und ich muss gehorchen!» Frau R. braucht länger, kleine Portionen, viele Wiederholungen, und möchte in einer stressfreien Atmosphäre lernen. Das haben die beiden – Lernende und Lehrperson – miteinander ausgemacht. «Das Schönste ist, dass sie nie mit mir schimpft», sagt Frau R. lachend, «ich bin frei und stresse mich nicht. Geärgert habe ich mich früher.» «Meine Prämisse ist immer», so die Tochter, «dass sie Freude hat. Das ist eine andere Herausforderung als im Unterricht mit Kindern. Ich muss noch genauer hinschauen und mir neue Herangehensweisen erarbeiten.»
«Der 35-jährige Managertyp überschätzt sich oft, hat zu hohe Ziele, während bei älteren Menschen Zielsetzung und Selbsteinschätzung häufig kongruent sind.» (Herr H., 57, unterrichtet Gitarre)
Frau R. ist eine der 43 Personen, die sich im Rahmen des Forschungsprojekts «Mach dich schlau am Instrument – Instrumentalunterricht 50 plus» für ein gut einstündiges Gespräch in Form eines leitfadengestützten Interviews zur Verfügung stellten. Von Interesse waren Lern- und Lehrstrategien im Instrumentalunterricht sowie Fragen nach der Motivation und den Auswirkungen. Was treibt Menschen an, im vorgerückten Alter wieder (oder erstmals) Unterricht zu nehmen? Wie gehen Lehrpersonen mit Erwachsenen und ihren Ansprüchen um? Was sind Erfolgsfaktoren für eine optimale Förderung von Personen 50 plus? Schliesslich: Was ist der indirekte subjektive Nutzen, und wo ist der Hemmschuh für alle Beteiligten?
Die Datenerhebung erfolgte mittels dreier Stichproben: Personen 50 plus, die neu in den Instrumentalunterricht einsteigen (n=15), Personen, die nach längerem Unterbruch den Instrumentalunterricht wieder aufnehmen (n=13), Lehrpersonen, die mit Personen aus beiden Zielgruppen arbeiten (n=15). Angestrebt wurde ein möglichst breites Spektrum an Generationen und Bildungsgraden sowie eine Ausgewogenheit der Geschlechter. Die jüngste Person war 27 (Lehrperson), die älteste 91 (Lernende).
«Ich lerne sämtliche Werke auswendig. Das ist eine harte Arbeit. Das braucht viel, aber ich bin hocherfreut, wenn ich es kann.» (Herr G., 71, Klavier)
Aus der Fülle an empirischem Material lassen sich zentrale Aussagen zu den Bedürfnissen und Lernstrategien älterer Lernender destillieren sowie zur Ausgestaltung eines erfolgsorientierten individualisierten Unterrichts. Faszination Klang, Wunscherfüllung, Selbstbestimmtheit, Lerndurst, Bandbreite der Methodenwahl und eine Beziehung auf Augenhöhe sind für ältere Lernende charakteristische Kategorien im Instrumentalunterricht.
An Lehrpersonen sind dabei hohe Erwartungen geknüpft: sowohl auf der Ebene der Beziehung und des Intellekts als auch die methodische und didaktische Flexibilität betreffend. Als zentral gelten die Verständigung auf erreichbare Ziele und der Respekt vor dem jeweiligen Erfahrungshintergrund. Der Umgang mit Nähe, einschliesslich notwendiger Berührungen, wurde durchwegs als unproblematisch dargestellt.
«Alle haben eine riesige Lebenserfahrung und einen prägenden beruflichen Hintergrund. So ist das Unterrichten nicht nur ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern ein Verhältnis auf Augenhöhe.» (Herr B., 32, unterrichtet Klarinette)
Beim Akquirieren der Interviewpartner stellte das Forschungsteam fest, dass Instrumentalunterricht nach wie vor vorwiegend Menschen der Mittel- und Oberschicht vorbehalten ist. Wer musiziert, grenzt sich von jenen ab, die es nicht tun. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnete Musikunterricht als Vorgang der «Distinktion, die gesellschaftliche Ein- und Ausgliederungsprozesse verfolgt». In den westeuropäischen Ländern und auch in der Schweiz besuchen dagegen Kinder mit Migrationshintergrund oder aus sogenannten bildungsfernen Familien kaum Musikunterricht. Dieser gilt als elitär, was gerne damit begründet wird, dass Eltern vierzig Prozent der effektiven Kosten tragen müssen. In Finnland, dem Vorzeigeland für musikalische Breitenförderung, beträgt der Anteil nur halb so viel.
Den Musikunterricht muss man sich also, wie die Ausbildung, leisten können. So erstaunt es kaum: Je höher die Ausbildung einer Person ist und je mehr sie verdient, desto eher spielt sie ein Instrument. In der Schweiz tut dies im Jahr 2008 knapp jede fünfte Person, 24 Prozent der Musizierenden verfügen über eine Ausbildung auf Tertiärstufe (Fachhochschule, Universität). Es dürften in Zukunft mehr ältere Musizierende werden, denn der Anteil der Personen ab 65 Jahren an der Bevölkerung wird bis 2035 auf über 26 Prozent steigen. Hinzu kommt, dass in reichen Ländern gegenwärtig viele ältere Menschen über zeitliche, materielle und gesundheitliche Ressourcen verfügen. Sie beteiligen sich aktiver denn je am gesellschaftlichen Leben, verwirklichen Träume und sind bereit, Neues zu lernen.
«Das Spielen gibt Sicherheit und das Gefühl, dass doch alles schön ist. Das Gefühl haben, dass es Sinn hat, dass man etwas Schönes machen kann.» (Frau S., 27, unterrichtet Fagott)
Die 55-Jährige lernt in einer Bläserklasse Querflöte, weil sie die Musik schon immer geliebt hat. Der 66-Jährige steigt nach der Pensionierung in den Alphorn-Unterricht ein – und zwar mit einem selbstgebauten Instrument. Der 57-Jährige verarbeitet ein als Kind erfahrenes Unterrichtstrauma, indem er jetzt Akkordeon statt Geige lernt. Diese wenig beachtete Zielgruppe wächst, der Nutzen musikalischer Aktivität ist wissenschaftlich belegt, für die Merkmale des instrumentalmusikalischen Lernens älterer Menschen interessiert sich ein noch junger Forschungszweig.
Viele sind lernorientiert, aktivitätsbezogen und prozessorientiert. Sie agieren lebenszentriert und sind ihrem Wesenskern auf der Spur, was den verstärkten Wunsch nach Selbstbestimmung erklärt. Im Gegensatz zu Kindern lernen sie oft über das rationale Verstehen, erst danach wird das Körpergedächtnis aktiviert. Die physischen Prozesse dauern länger, was sie oft durch kreative Umwege und hohe Motivation kompensieren können. Im Unterricht übernehmen sie im Vergleich mit Jüngeren oft mehr Selbstverantwortung.
«Bei der Methodik bin ich der Profi, auch bei Erwachsenen fordere ich diesen Respekt ein. Wenn mir jemand sagen will, wie ich unterrichten soll, lösen wir den Vertrag auf.» (Herr H., 57, unterrichtet Gitarre)
Im Gegenzug steigen die Anforderungen an den Unterricht. Die Beteiligten handeln gemeinsam aus, was die nächsten Schritte sein könnten. Lernenden und Lehrpersonen wird abverlangt, das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Autonomie einerseits und klaren Strukturen und Aufgabenstellungen andererseits stets von neuem auszuhandeln. Traditionelle Hierarchievorstellungen brechen auf, auch genderbedingte Stereotype kommen ins Wanken. Etwa dann, wenn eine ältere Frau zum Altsaxofon greift, das als Männerinstrument vor allem im Jazz Geschichte geschrieben hat.